Erweiterte technische Möglichkeiten sollen auch für die Lehre und Ausbildung nutzbar gemacht werden. Welche Chancen sich mit den Möglichkeiten der 360Grad Videografie für die bereits etablierte Arbeit mit Unterrichtsvideos in der Ausbildung von angehenden Lehrpersonen eröffnen, wird im vorliegenden Projekt untersucht.
Im Rahmen der modernen Ausbildung von Lehrpersonen ist der Einsatz von Unterrichtsvideos ein fester Bestandteil. Denn bei der strukturierten Analyse von Videobelegen, in denen erfolgreiche und misslungene Lehr-Lern-Prozesse erkennbar werden, entwickeln Studierende nicht nur ihre Analysekompetenz weiter, sondern die Videoanalyse dient nachweislich auch der Förderung der Verbindung von Theorie und Praxis. So sind denn auch in den letzten zehn Jahren unterschiedliche Videoplattformen entstanden, die das Potenzial vom Lernen mit Videos in der Ausbildung von Lehrpersonen explizit unterstützen, z.B. «FOCUS» der FU Berlin, «CLIPSS» der Universität Duisburg Essen, «VIGOR» der Universität Frankfurt u.e.a.m.
Trotz der vielen Vorteile von Unterrichtsvideos gegenüber anderen Medien der Lehrpersonenbildung sind der Arbeit mit Videos Grenzen gesetzt: Der aufgenommene Unterricht – abhängig vom Fokus der Kamera – ist immer ein begrenzter Ausschnitt der Realität, weil Kameras Unterricht i.d.R. aus einer stationären Perspektive aufnehmen, und zwar meist aus der rückwärtigen Seite des Schulzimmers. Zudem legt die Kameraperson die Perspektive für die späteren Betrachter fest. Dagegen ist es «echten» Beobachter:innen vor Ort möglich, ihren Blick durch die ganze Klasse schweifen zu lassen, verschiedene Fokussierungen vorzunehmen oder gezielt einzelne Schüler:innen und Interaktionen in den Blick zu nehmen.
Aber: Heute ist eine weitgehend freie Beobachtungsfokussierung durch den Einsatz einer 360º-Kamera realisierbar … hier setzt das P-8-Projekt «Mitten drin – 360º-Videografie» an: Es will die innovative Kameratechnik für die Lehrer:innenbildung nutzbar machen und versuchen, die Einschränkungen der vordefinierten Betrachtungsperspektiven aufzulösen. Weil 360º-Kameras das ganze Raumgeschehen aufnehmen, können Betrachtende im Nachhinein ihren Beobachtungsfokus selber festlegen, respektive haben die Möglichkeit, sich im Raum des Geschehens umzusehen und auf verschiedene Aspekte zu fokussieren. So kann beispielsweise in einer individualisierten Lernphase entschieden werden, ob man den Tätigkeiten einzelner Schüler:innen oder Lernbegleitung der Lehrpersonen folgt beobachtet (vgl. Abb.). Durch die Rundumsicht vermitteln die Aufnahmen ausserdem einen authentischeren und realeren Eindruck der Unterrichtswirklichkeit, wodurch mehr Aspekte und Interaktionsgeschehen beobachtet werden können.
Zusätzlich kann bei der Betrachtung von Unterrichtsvideos mit Hilfe von VR-Brillen ein Präsenzgefühl (immersive Erfahrung) geschaffen und unterstützt werden. Jedoch könnten die starke sinnliche Wirkung und das Anwesenheitsgefühl dazu führen, dass weniger vertieft auf das Unterrichtsgeschehen geachtet wird, respektive die Sinneseindrücke der fokussierten Analyse und Beobachtung im Weg stehen (z.B. Kunz & Zinn, 2022; Rupp et al., 2016).
In einer ersten Phase des vorliegenden P-8-Projekts mussten zuerst Fragen zu den technischen Anforderungen und Voraussetzungen geklärt werden. Insgesamt zeigt sich, dass die 360º-Videografie in vielerlei Hinsicht noch in den Kinderschuhen steckt, was sich insbesondere hinsichtlich der Nutzbarmachung zu Ausbildungszwecken erschwerend auswirkt. Professionelle 360º- Kameras sind zwar imstande, hochauflösende Videos aufzunehmen, produzieren im Zuge der Rundumsicht aber auch schon für einzelne Aufnahmeminuten kaum bewältigbare Datenvolumen. Für das P-8-Projekt fiel die Modellwahl schlussendlich auf Kameras aus dem Sport- und Freizeitbereich, weil diese 1) eine ausreichende Bildqualität liefern und 2) mit einem sehr einfachen benutzerfreundlichen Handling überzeugen. Auf diese Weise ist es möglich, die Vorzüge der 360º-Videografie in einfacher Art und Weise für die Reflexion praxisbegleitender Ausbildungselemente zu nutzen, sei es für die gemeinsame Analyse vorgegebener Beobachtungsschwerpunkte oder sei es für die Analyse von Unterrichtsmomenten, die sich aus der Unplanbarkeit und der Überraschungsoffenheit von Unterricht ergeben.
Nach zweijähriger coronabedingter Aufnahmepause konnten im Juni und Juli 2022 erste Videoaufnahmen in Schulklassen durchgeführt werden. Dabei haben sich die Unscheinbarkeit der Kameras und die Fernsteuerung der Aufnahmen über Bluetooth als grosse Vorteile erwiesen, denn sie führen zu geringen Ablenkungen und wirken sich minimalinvasiv auf das Unterrichtsgeschehen aus. Aus dem produzierten Videomaterial sollen im nächsten Schritt Lernpakete zur Analyse in der Ausbildung generiert werden. Dazu wird das Material zunächst unter dem Fokus vorhandener «Kernpraktiken» gesichtet, welche später zu Analyse in der Lehre eingesetzt werden. Nebst der Analyse und Verortung von Kernpraktiken können auch traditionelle Rahmungen von Bausteinen, Standards oder Grundformen des Lehrens und Lernens verwendet werden.
Weitere Vorhaben: Zusätzlich zum Einsatz der 360º Videografie im Rahmen von Praktika sollen Erfahrungen in der Ausbildung von Studierenden im Rahmen von Seminaren gewonnen werden. Dazu ist die erwähnte Erstellung von Lernpaketen vorrangig. Denkbar sind beispielsweise Abfolgen von Videosequenzen (1. Inhaltlicher Einstieg; 2. Auftragserteilung der Lernaufgabe; 3. Arbeit der Schüler:innen an Lernaufgaben; 4. Ergebnissicherung) aus unterschiedlichen Stufen und Fachbereichen. Weiter soll die Analyse der Videos mit validen Instrumenten geprüft werden. So könnten Instrumente wie CLASS (Teachstone, 2022) oder INSULA (Wemmer-Rogh et al., 2021) spannende Analyseinstrumente sein, welche auch im Vorfeld die nötige Validität für die Kernpraktiken resp. Fokusbereiche liefern könnten. Vor dem Hintergrund der Frage des Mehrwerts der 360º-Aufnahmetechnik im Vergleich zu herkömmlichen Videoaufnahmetechniken wurde der gleiche Unterricht mit verschiedenen Kameratechniken parallel aufgezeichnet. – die Bearbeitung des Videomaterials steht noch aus.
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Pädagogische Hochschule Luzern
Philipp Peter
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+41 41 203 03 44
Literatur:
• Kunz, K., & Zinn, B. (2022). Virtuelle Unterrichtsszenarien in der Lehrpersonenbildung – eine Studie zur Akzeptanz, Immersion und zum Präsenzerleben mit Studierenden der Berufs- und Technikpädagogik. Unterrichtswissenschaft. https://doi.org/10.1007/s42010-022-00151-0
• Rupp, M. A., Kozachuk, J., Michaelis, J. R., Odette, K. L., Smither, J. A., & McConnell, D. S. (2016). The effects of immersiveness and future VR expectations on subjec-tive-experiences during an educational 360° video. Proceedings of the Human Factors and Ergonomics Society Annual Meeting, 60(1), 2108–2112. https://doi.org/10.1177/1541931213601477
• Teachstone. (2022). CLASS.
• Wemmer-Rogh, W., Praetorius, A.-K., Gossner, L., & Wehrli, F. (2021). Unveröffentlichtes Instrumentarium zur Unterrichtsbeurteilung (INSULA). Universität Zürich.
Fotos: Philipp Peter
07. November 2022, Philipp Peter